Geschrieben im Oktober 2017

Da ist es – ein Reh. Das erste im Leben dieses kleinen Fellbündels, gleich in den ersten Ferien im Piemont. Völlig erschrocken bleibt Lotte erst kurz stehen – und rennt dann los. Mit diesem Zögermoment hat sie natürlich noch mehr verloren, keine Chance für den Hund, alle Chancen für die Rehe. Sie rennen über den Acker hinterm Haus und sind verschwunden. Man meint, sie lachen zu hören.

Das nächste Mal treffen sie sich am Maulbeerbaum, den Lotte so liebt. Den anscheinend alle Tiere lieben, denke ich, als die Hündin plötzlich an der Leine zerrt und ich ein Rauschen, Knacken und Knistern höre. Und dann sehe, wie die Rehe fortstieben.

Das nächste Wildtier kommt erst in den nächsten Ferien. Die gehen in die Franche Comté. Der Vermieter unserer schönen Ferienwohnung berichtet ständig von seinem Hund, als käme der gleich um die Ecke gerannt. Dabei ist das Tier seit Jahren tot. Es ist, als würde der Zweibeiner mit dem Vierbeiner auch seiner eigenen Beweglichkeit hinterhertrauern, wenn er von dem Hund erzählt und dann sich ein wenig steif, fast humpelnd fortbewegt. Sein Hund jedenfalls sprang immer über die Mauer und war dann fort. Jagen. Die französischen Förster habe es nicht gestört, erzählt der Vermieter. Sie hätten ohnehin gefunden, dass Gemsen nicht in die Franche Comté gehören. Ich bin froh, dass die Förster so denken, auch wenn es mir nicht richtig dünkt. Aber der Gedanke, Lotte könnte Wild hinterher springen, stresst mich selbst schon so – da brauche ich nicht auch noch genervte Förster.

Die erste Gemse sieht Lotte nicht. Ich sehe das Tier am Waldrand stehen, als wir auf den Berggrat steigen. Lotte sieht nur – Wald, Wiese, Wolken, was-weiss-ich. Auf der nächsten Wanderung sieht sie die Gemsen auch. Und rennt hinterher. Sie hat wieder keine Chance. Das Gelände ist zu steil, die Gemsen zu schnell. Sie gibt bald auf. Auch auf der nächsten Wanderung – ja, es gibt viele Gemsen in der Franche Comté. Beim nächsten Mal sehen wir die Gemse eher als Lotte, rufen sie zurück – und das ist für sie das Signal, mal zu schauen, was los ist: Sie rennt hinter der Gemse her, aber gibt bei der nächsten Kurve auf. Mir scheint, die Kleine ist einfach noch zu langsam. Ich hoffe aber, unser Rufen hat auch eine Rolle gespielt. Klar ist: Die grossen Elterntiere werden ihr immer zu schnell sein. Nur die Kleinen, die im Frühling im Gras liegen, die sind wirklich gefährdet.