Jürgen Teipel: Unsere unbekannte Familie. Wahre Geschichten von Tieren und Menschen, Suhrkamp 2018, 285 Seiten

Sibylle Wiemer arbeitet als Reittherapeutin mit seelisch behinderten Kindern, mit Schwerbehinderten und schwerst Mehrfachbehinderten. Eines ihrer Pferde heisst Piko, ein hochsensibles Tier, «im Grunde viel zu sensibel für diese Welt», wie Wiemer sagt. Sibylle Wiemer und Pico begleiten gemeinsam Frau Weiss in den letzten Jahren ihres Lebens, bevor Frau Weiss an Krebs stirbt. Pico spürt genau, wie es Frau Weiss gerade geht. Mal marschiert er forsch los, mal bewegt er sich so vorsichtig, als würde er ein rohes Ei auf dem Rücken tragen. Vorsichtig ist er an den Tagen, an denen Frau Weiss die Metastasen etwa in der Lende und der Halswirbelsäule so schmerzen, dass sie sich kaum noch ausbalancieren kann oben auf dem Pferderücken. Kurz vor ihrem Tod schreibt Frau Weiss an Sibylle Wiemer, Piko habe ihr «Die schönsten Stunden ihres Lebens» beschert.

«Die schönsten Stunden des Lebens» ist eine von 39 Erzählungen, die Jürgen Teipel gesammelt und unter dem Titel «Unsere unbekannte Familie. Wahre Geschichten von Tieren und Menschen» veröffentlicht hat. Teipel, Journalist, DJ und Autor des Punk-Erinnerungsbuchs «Verschwende deine Jugend» lässt darin Menschen wie Sibylle Wiemer von ihren Erlebnissen mit Tieren erzählen. Um Hunde, Katzen, Pferde geht es, aber auch um Dachse, Esel oder Amseln, Kühe, Füchse, Elefanten und Raben, Pumas, Bienen und Orang-Utans. Sie sind alle in einer ganz schlichten Sprache aufgeschrieben, so, wie Menschen wirklich reden, mit falschen Nebensätzen oder «ne» statt «eine». Auch deshalb rücken die Erzählungen ganz nah an den Leser heran, lassen ihn staunen, lachen, schlucken vor Rührung, still werden. Es ist, als lebten auch wir Leser mit den sauberkeitsliebenden Schweinen im Wald, schauten den Fuchs-Eltern zu, wie sie sich rührend um ihre Kleinen kümmern, stünden mit Axel Wassmann und seinem Eichhörnchen unter der Dusche oder streiften mit Ralph Schmidt und dem misshandelten Puma durch den ecuadorianischen Dschungel. Und werden immer wieder wütend, weil unerträglich oft von Menschen die Rede ist, die Tiere schlagen, traktieren, vernachlässigen, schlicht vergammeln lassen.

«Ich merkte, wie leicht Tiere eine ganz andere Welt eröffnen können», schreibt Jürgen Teipel im Vorwort. Es ist sein Verdienst, dass er sie zulässt, diese «andere Welt», dass er sich nicht erhebt, weder über die Tiere, noch über die Menschen. Es ist, als sässe er staunend daneben, wenn die Menschen erzählen. Dabei ist klar, wie sehr Teipel eingreifen, die Geschichten strukturieren, sie aus dem umständlich Erzählten herauskristallisieren musste. Ein scheinbar einfaches Verfahren. Und ein schlichter Tipp: Lesen!

Werke wie Jürgen Teipels «Unsere unbekannte Familie» zeigen, wie viel wir über Tiere noch lernen und erfahren können. Denn seine Geschichten illustrieren nicht nur die Eigenheiten der Tiere, sondern sie berühren auch unsere Sinne. Sein staunendes Schauen kann tatsächlich an die Stelle des unmittelbaren Erlebens treten.